Saatgut mit kurzer Lieferkette

Von

Samira Amos, Biovision (Bilder: Semences de Pays)

Ein lokaler Saatguthersteller und ein Setzlingsproduzent in Genf haben sich mit Bäuerinnen und Bauern zu einem Verein zusammengeschlossen. Diese in der Schweiz einzigartige Initiative hat das Ziel, die Kontrolle über die Saatgutproduktion zurückzugewinnen.

Das Projekt «Semences de Pays» im Kurzporträt 

Weltweit dominieren neun Pflanzenarten die Landwirtschaft, gleichzeitig sind drei Viertel aller Pflanzensorten verschwunden. Dieser dramatische Verlust an Vielfalt ist auf die Macht weniger Grosskonzerne über den Saatguthandel zurückzuführen, welche weltweit die gleichen Sorten anbieten. Auch bei uns zeigen sich die Folgen: Die lokal angepassten Sorten sind bedroht – sowie das Wissen um deren Anbau und kulturellen Bedeutung.

Mit dem Aufschwung der Agrarökologie hat sich in der Schweiz eine Gegenbewegung zum industriellen Saatguthandel entwickelt. Denn immer mehr Höfe setzen auf einen kleinstrukturierten, nachhaltigen Anbau (wie «Seminterra» oder «Katzhof»). Dafür benötigen sie angepasste und resiliente Sorten, die auch ohne Dünger und Pestizide auskommen. Um diesen Bedarf zu erfüllen, haben sich der Genfer Saatguthersteller «Semences de Pays» und der Setzlingsproduzent «Les Artichauts» mit 20 Höfen in der Romandie zum Verein «Court Circuit» (auf Deutsch bedeutet dies «Kurzschluss» und ist ein Wortspiel für kurze Lieferkette) zusammengeschlossen. Dabei gestalten die Mitglieder von «Court Circuit» die Saatgut- und Setzlingsproduktion gemeinsam und passen sie auf ihre Bedürfnisse an.

Biovision bietet mit der Rubrik «Beispiele für ein nachhaltiges Ernährungssystem» jenen Initiativen und Projekten in der Schweiz eine Bühne, welche ohne unsere Begleitung oder finanzielle Unterstützung ein nachhaltiges Ernährungssystem mitgestalten. Damit zeigen wir, dass zukunftsfähige Lösungen existieren und ein Wandel möglich ist.

Semences de Pays im Internet

Saatgut für agrarökologische Anbausysteme

Der Saatguthersteller «Semences de Pays» bewahrt und vermehrt Bio-Saatgut von lokalen, widerstandsfähigen Gemüsesorten und passt sie an die sich verändernden Klimabedingungen an. Um die besten Sorten für die beteiligten Höfe auszuwählen, erfasst der Saatguthersteller die Praktiken der Höfe genau – von der Pflanzung bis zur Lagerung – und nutzt diese Informationen zur Auswahl. Sobald sich auf den Parzellen von «Semences de Pays» für ein Gemüse eine Handvoll vielversprechende Sorten herauskristallisieren, werden sie direkt auf den Feldern der Höfe angebaut und selektioniert.

Durch diese Herangehensweise setzt «Semences de Pays» nicht nur selbst einen nachhaltigen Anbau um (siehe Prinzip 1-6 in der unteren Grafik), sondern unterstützt auch die Verbreitung agrarökologischer Praktiken durch optimal passendes Saatgut.

Einsatz für das Recht von Bauern und Bäuerinnen

Im Gegensatz zu grossen Unternehmen, die den Saatguthandel dominieren, ist die Saatgutproduktion hier dezentral und gemeinschaftsbasiert organisiert. Durch die Genossenschaft «Court Circuit» entscheiden die 20 beteiligten Höfe bei der Selektion und Preisgestaltung der Saatgutsorten mit. Damit punktet «Semences de Pays» in Sache soziale Gerechtigkeit (Prinzip 8-12) und ist ein einzigartiges Beispiel in der Schweiz, wie das von der UNO als Menschenrecht anerkannte Recht auf Saatgut in der Praxis umgesetzt wird.

Tradition bewahren und Zukunft sichern

Der Saatguthersteller bewahrt robuste Gemüsesorten, die seit Jahrzehnten in Genf angebaut werden, aber durch die Industrialisierung in Vergessenheit geraten sind. Ein Beispiel ist das Kardon, eine lokale Delikatesse, die besonders zu Weihnachten geschätzt wird. Zusätzlich nutzt «Semences de Pays» auch Samen von seltenen Pflanzen aus anderen Regionen (wie die Kurtovska Peperoni oder den Padron-Pfeffer), die sich angesichts der sich wandelnden Klimabedingungen auch in Genf gut entwickeln könnten. Dadurch bewahrt «Semences de Pays» die traditionellen Ernährungsweisen (Prinzip 9) der Region und reagiert gleichzeitig auf zukünftige Herausforderungen.

Das Diagramm zeigt die Auswertung des Saatgutherstellers «Semences de Pays» und des Gartenvereins «Les Artichauts». Da beide nicht mit Nutztieren arbeiten, ist das Prinzip 4 «Gesundheit der Tiere» nicht anwendbar.

So funktioniert die Bewertung mit B-ACT

Das B-ACT spiegelt die Ausrichtung von Unternehmen, Projekten und Initiativen an den 13 agrarökologischen Prinzipien des «High Level Panel of Experts on Food Security and Nutrition» (HLPE) wider (siehe «Agrarökologie kurz erklärt»).

Dabei ist jedes Prinzip in eines der drei übergeordneten Themen eingeordnet:

  • Erhöhung der Ressourceneffizienz
  • Stärkung der Resilienz
  • Sicherung der sozialen Gerechtigkeit

Zu allen Prinzipien wurden von Biovision in Zusammenarbeit mit Partner:innen Fragen erarbeitet, die in das B-ACT eingebaut wurden. Je mehr Fragen für eine Initiative oder ein Geschäftsmodell positiv beantwortet werden können, desto höher ist der Beitrag zu dem entsprechenden Prinzip.

Illustration des B-ACT Tools auf einem Computer.

Damit punktet das Projekt

  • Gerade im Kontext des Klimawandels ist eine möglichst grosse Vielfalt an Pflanzensorten entscheidend. Alte Sorten, die oft Resistenzen gegen Krankheiten oder Schädlinge aufweisen, sind für eine umweltfreundliche und klimawandelresistente Landwirtschaft unerlässlich. Als einer der letzten lokalen Saatguthersteller in der Schweiz sorgt «Semences de Pays» dafür, dass diese wertvollen Sorten nicht nur erhalten bleiben, sondern sich auch an die veränderten klimatischen Bedingungen anpassen.
  • Durch die einzigartige Organisationsstruktur des Vereins «Court Circuit» liegt die Entscheidungsmacht, welches Saatgut zu welchen Bedingungen vermehrt und selektioniert wird, direkt bei den Bäuerinnen und Bauern. Dies stärkt die Unabhängigkeit und Resilienz der Betriebe und bietet einen sozial gerechten Gegenentwurf zum industriellen Saatguthandel.
  • «Semences de Pays» und «Les Artichauts» sind für solidarische Landwirtschaftsbetriebe und andere agrarökologische Höfe in der Region Genf unerlässlich. Denn sie stellen Saatgut zur Verfügung, das auf deren landwirtschaftlichen Anbausysteme und Werte angepasst sind.
  • Zusätzlich engagiert sich «Semences de Pays» in Schulen und Quartierhäusern, um Wissen zur Saatgutproduktion zu vermitteln. Auch Fachleute profitieren von dieser Wissensweitergabe, wie beispielsweise die Lernenden beim Leuchtturm F.A.M.E.
Trockenes Saatgut von Radieschen aus dem Projekt «Semences de Pays».

Diese Herausforderungen bestehen für das Projekt

Ein dezentralisiertes Saatgutsystem weist eine höhere Resilienz auf: Wenn das Saatgut einer Pflanzensorte an einem Ort verloren geht – etwa durch Toxine oder einen Ausfall der Kühlung des Saatguts – besteht in einem solchen System eine gute Chance, dass diese Sorte anderswo noch existiert. Zudem sind Bäuerinnen und Bauern unabhängiger, da sie sich nicht auf wenige Saatgut-Anbieter verlassen müssen. Genau deshalb setzt sich «Semences de Pays» für eine Dezentralisierung der Saatgutproduktion ein: Ziel ist es, dass Landwirtschaftsbetriebe ihr eigenes Saatgut selektionieren und vermehren. Langfristig soll «Semences de Pays» überflüssig werden und nur noch spezialisierte Maschinen für die Selektion und Vermehrung von Saatgut zentral zur Verfügung stellen. Bis dahin unterstützt die Initiative die Höfe mit Wissen und Werkzeugen.

Doch viele Bäuerinnen und Bauern sind zurückhaltend, selbst Saatgut zu selektionieren oder zu vermehren, weil ihnen das nötige Wissen fehlt oder sie das Risiko von Ertragsausfällen bei nicht etablierten Sorten fürchten. Zur Förderung eines dezentralen Systems könnte viel vom alten Saatgutsystem der Schweiz gelernt werden, wie es vor der Industrialisierung existierte. Leider wurde dieses Wissen kaum schriftlich festgehalten, und es ist unklar, wie Bäuerinnen und Bauern damals Saatgut produziert und untereinander ausgetauscht haben. Trotz dieser Hürden versucht «Semences de Pays», alte Strukturen zu rekonstruieren und lernt dabei von ähnlichen Systemen in anderen Ländern, unter anderem durch seinen Einsatz bei der bäuerlichen Bewegung La Via Campesina.

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