«Die Biodiversität geht uns alle an»

Von

Lothar J. Lechner Bazzanella, Biovision.

Am 22. September 2024 stimmt die Schweiz über die Biodiversitätsinitiative ab. Biovision positioniert sich klar für ein Ja. Daniel Seifert, Programmverantwortlicher für Ernährungspolitik Schweiz bei Biovision, erklärt im Interview, warum die Initiative so wichtig ist und welche Rolle die Biodiversität für uns alle spielt.

Was sind die Ziele der Biodiversitätsinitiative, über die die Schweiz am 22. September abstimmt?

Die Biodiversitätsinitiative ist besonders, weil sie den Schutz der Biodiversität auf die höchste Gesetzesebene, nämlich in der Verfassung, verankern möchte. Darüber stimmen die Schweizerinnen und Schweizer ab. Die Initiative ist bewusst offen formuliert und stellt den Schutz der Biodiversität ins Zentrum, ohne jedoch konkrete Vorgaben zu machen, beispielsweise welche Fläche hierfür bereitzustellen ist. Sie operiert daher auf einer höheren Flughöhe und legt den Fokus darauf, langfristig mehr Mittel und Schutzmassnahmen für bestehende Ökosysteme zu generieren.

Warum ist die Biodiversität so wichtig?

Biodiversität spielt eine grundlegende Rolle für die Stabilität und Funktion unserer Ökosysteme und damit für unsere eigene Existenz. In den Diskussionen über die Klimakrise wurde sie in den letzten Jahren oft vernachlässigt, obwohl Biodiversität mindestens genauso wichtig ist wie unser Klima und unter anderem einen enormen Einfluss auf unser Ernährungssystem hat. Vielen ist noch zu wenig klar, dass wir hier eigentlich von einer Doppelkrise sprechen: der Klima- und der Biodiversitätskrise.

Daniel Seifert

Programmverantwortlicher für Ernährungspolitik Schweiz bei Biovision.

Welche Rolle spielt Biodiversität für unsere Landwirtschaft ?

Biodiversität ist zentral für jede Form der Landwirtschaft. Es gibt eigentlich keine funktionierende Landwirtschaft ohne Biodiversität, da sie die Grundlage für unzählige Ökosystemleistungen bildet, die die Natur für uns erbringt. Nehmen wir als wohl bekanntestes Beispiel die Bestäubung: Viele unserer Nahrungsmittel, besonders Früchte und andere Ackerprodukte, sind auf die Bestäubung durch Insekten angewiesen. Wenn es nur noch wenige Bestäuber gibt, könnten wir in ernsthafte Schwierigkeiten geraten.

Wie zeigt sich die Bedeutung der Biodiversität konkret in landwirtschaftlichen Praktiken?

Biodiversität ist das gesamte Bodenleben, wie wir zum Beispiel mit unserem Projekt Sounding Soil zeigen. Was wir im Boden hören, der lebendige Boden, das ist Biodiversität. Der Boden muss leben, damit unsere Pflanzen wachsen können. Ein weiteres Beispiel ist die Agrobiodiversität, also die Vielfalt der Pflanzen und Lebensmittel, die wir anbauen. Nur eine Sorte Bananen anzubauen, wie es derzeit häufig der Fall ist, birgt enorme Risiken – ein auf diese Sorte spezialisierter Pilz könnte zum Beispiel die komplette Bananenernte der Welt vernichten. Gleiches gilt für den Anbau von Äpfeln, Karotten oder Tomaten. Die Diversität im Anbau solcher Produkte nimmt extrem ab oder fehlt heute schon komplett.

Luftaufnahme eines blühenden Rapsfeldes. Diverse Ökosysteme sind unglaublich wichtig für die Biodiversität und für unsere Landwirtschaft.

Welche Rolle spielt die Biodiversität für Biovision?

Für Biovision ist Biodiversität essenziell. Wenn wir auf die Ursprünge der Stiftung schauen, dann liegt die Biodiversität seit jeher im Mittelpunkt. Schliesslich hat Biovision-Gründer Hans R. Herren vor über 25 Jahren mit einer Wespenart einen Maniok-Schädling von den Feldern Kenias vertrieben. Er hat also auf eine biologische Bekämpfung gesetzt, die sich die Vielfalt der Natur zunutze macht.

Biovision ist bei Abstimmungen zum Teil eher zurückhaltend, warum hat sie sich nun für die Biodiversitätsinitiative ausgesprochen?

Es stimmt, Biovision versucht immer, zwischen den verschiedenen Standpunkten zu vermitteln. Auch bei dieser Initiative war lange ein Gegenvorschlag auf dem Tisch, den wir sehr begrüsst hätten. Doch dieser fiel weg, während gleichzeitig der Handlungsbedarf unbestritten bleibt. Zudem wäre eine Ablehnung dieser Initiative ein absolut falsches Signal, das einige Gruppen nutzen könnten, um das Thema komplett vom Tisch zu wischen. Die Gegnerinnen und Gegner könnten sagen: «Das Volk hat die Initiative abgelehnt. Jetzt müssen wir uns nicht mehr darum kümmern, das ist erledigt.» Und das wäre fatal.

Wie steht die Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern bei der Biodiversität da?

Die Schweiz war in der Vergangenheit oft eine Vorreiterin, wenn es um Nachhaltigkeit – insbesondere in der Landwirtschaft – ging, etwa beim ökologischen Leistungsnachweis. Doch in den letzten Jahren wurden wir von anderen Ländern in Europa überholt. Unsere intensive Landwirtschaft bedroht viele Arten, und die Umweltziele für die Landwirtschaft werden generell nicht erfüllt.

Gibt es denn auch Hoffnungsschimmer für die Biodiversität in der Schweizer Landwirtschaft?

Es gibt natürlich auch viele gute Beispiele, wo auf Biodiversität und Produktivität gleichermassen Wert gelegt wird. Wir bei Biovision haben zum Beispiel das Projekt der erfolgreichen Praxisbeispiele, die zeigen, dass es auch anders geht. Aber grundsätzlich haben wir in der Schweiz eine sehr intensive Produktion. Wenn wir wirklich eine nachhaltige Selbstversorgung anstreben, braucht es eine intakte Biodiversität. Langfristig ist das eigentlich die einzige Möglichkeit, um wirklich vorwärtszukommen.

Die idyllische Schweizer Berglandschaft kann täuschen. Immer mehr Arten gehen verloren.

Was müsste konkret getan werden, wenn die Initiative angenommen wird?

Wir müssen endlich anerkennen, dass die Biodiversität uns alle angeht, nicht nur die Landwirtschaft. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe für alle Bürgerinnen und Bürger der Schweiz, die die verschiedensten Bereiche unseres Lebens berührt. Wir von Biovision fokussieren uns auf die Landwirtschaft, weil das unsere Aufgabe und Expertise ist. Es ist aber ganz wichtig zu betonen, dass nicht nur die Bäuerinnen und Bauern Verantwortung tragen. Für die Landwirtschaft wäre es unserer Meinung nach wichtig, systemische Ansätze wie Agrarökologie stärker in die Agrarpolitik zu integrieren. Bewährte Methoden wie die Agroforstwirtschaft müssen gefördert und stärker in der Ausbildung von Landwirtinnen und Landwirten betont werden. Wir müssen sicherstellen, dass die nächste Generation von Fachkräften die Bedeutung der Biodiversität versteht und diese in ihrer Praxis umsetzt. Und wir müssen festhalten, dass es funktioniert, Produktivität und Biodiversität zusammenzubringen.

Welche Erfolge hat Biovision in der Vergangenheit in Bezug auf Biodiversität erzielt?

Biodiversität war schon immer ein zentraler Bestandteil unserer Arbeit bei Biovision. Hans R. Herrens Pionierarbeit in der biologischen Schädlingsbekämpfung war ein wichtiger Meilenstein, der die Lebensgrundlage von zehntausenden Menschen verbessert hat. Auch auf internationaler Ebene haben wir einen wichtigen Beitrag zum Schutz der Biodiversität geleistet, insbesondere durch unsere Arbeit im Rahmen der Biodiversitätskonvention. Ziemlich alle unsere Projekte räumen der Biodiversität eine zentrale Rolle ein und fördern mit ihrer Hilfe die Ernährungssicherheit von Bäuerinnen und Bauern, die Gesundheit der Böden und die Resilienz der Ökosysteme – etwa gegenüber extremen Klimaeinflüssen. Es ist eben dieser umfassende Ansatz, der unglaublich viele Vorteile mit sich bringt.

Was motiviert dich persönlich, sich für Biodiversität einzusetzen?

Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind immens, und es kann überwältigend sein, weil man oft nicht weiss, wo man anfangen soll. Was mich bei meiner Arbeit für Biovision motiviert, ist unser systematischer Ansatz, der es uns ermöglicht, mit vielen Projektpartnern zusammenzuarbeiten und die grossen Zusammenhänge zu sehen. Wir sind gut verankert, sowohl in der Schweizer Landwirtschaft als auch im globalen Süden, und das gibt mir die Zuversicht, dass wir gemeinsam die Transformation der Ernährungssysteme vorantreiben können.

Was können Menschen im Alltag tun, um sich für die Biodiversität einzusetzen?

Indem sie bewusst Produktionsarten unterstützen, die auf Artenvielfalt setzen. Das beginnt beim Einkauf: Durch die Bevorzugung von Produkten mit nachhaltigen Labels und die Anerkennung der Arbeit der Bäuerinnen und Bauern. Gespräche mit ihnen sind dabei ebenso wichtig, um ihren Mehraufwand zu würdigen. Auch das Anpflanzen lokaler Pflanzen, die für Bienen und andere Bestäuber geeignet sind, sowie das Schaffen von lebendigen, offenen Böden, wo Tiere leben können, sind einfache, aber wirkungsvolle Schritte. Letztlich kommt es darauf an, dass jede und jeder im Alltag die individuellen Möglichkeiten nutzt, um Biodiversität zu unterstützen – sei es durch bewussten Konsum, durch verantwortungsvolles Reisen oder durch umweltfreundliche Gestaltung des eigenen Lebensraums.

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