Welternährung – Klimawandel – Artensterben: Welche Fortschritte wurden im Jahr 2021 gemacht?

Von

Martin Grossenbacher, Medienverantwortlicher

2021 wurde heiss über die Zukunft unserer Ernährungssysteme debattiert und nachhaltige Lösungen gesucht. Im Interview beantworten Biovision-Präsident Hans R. Herren und Geschäftsführer Frank Eyhorn die Frage, was dabei herausgekom-men ist und wo Biovision im kommenden Jahr die Hebel ansetzt.

2021 wurde heiss über die Zukunft unserer Ernährungssysteme debattiert und nach nachhaltigen Lösungen gesucht. Im Interview beantworten Biovision-Präsident Hans R. Herren und Geschäftsführer Frank Eyhorn die Frage, was dabei herausgekommen ist und wo Biovision im kommenden Jahr die Hebel ansetzt.

Die Art, wie wir unsere Nahrung produzieren und konsumieren hat einen grossen Einfluss auf die Umwelt (Klimawandel, Artensterben, usf.). Die erneute Zunahme des Welthungers zeigt, dass unsere Ernährungssysteme nicht wie gewünscht funktionieren. Sie müssen deshalb dringend anders gestaltet werden.

Im zu Ende gehenden Jahr wurden Fragen rund um die Ernährung sowohl global wie auch in der Schweiz heiss diskutiert. International suchte die Weltgemeinschaft am UN-Ernährungssystemgipfel (UNFSS 2021) nach Lösungen. Hierzulande wurde über die Zukunft der Schweizer Agrarpolitik gestritten (AP22+) und die Stimmbevölkerung lehnte zwei Initiativen ab, die den Pestizideinsatz in der Landwirtschaft drastisch reduzieren wollten.

Wo stehen wir Ende 2021 beim Thema nachhaltige Transformation der Ernährungssysteme und welche Erfolge konnte Biovision dabei erreichen? Hans Rudolf Herren, Präsident, und Frank Eyhorn, Geschäftsführer von Biovision geben Antwort auf diese Fragen.

 

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«Was wurde 2021 erreicht?», Gespräch zum Jahresende mit Hans Rudolf Herren, Präsident und Frank Eyhorn, Geschäftsführer von Biovision (rechts: Martin Grossenbacher)

Bisher war Biovision vor allem bekannt für ökologische Lösungen in der Landwirtschaft. Weshalb spielen jetzt Ernährungssysteme eine so wichtige Rolle?

Hans Rudolf Herren (HRH): Es ist die Fortsetzung des ganzheitlichen Ansatzes, den Biovision schon immer angewendet hat. Die riesengrossen Probleme der heutigen Zeit – wie Hunger, die Klimakrise oder das weltweite Artensterben – stehen in direktem Zusammenhang mit der Art und Weise, wie wir unsere Nahrung produzieren und uns ernähren. Um diese komplexen Herausforderungen zu bewältigen, ist ein ganzheitlicher Ansatz notwendig. Wir betrachten deshalb jetzt das Ernährungssystem entlang der ganzen Wertschöpfungskette vom Feld bis auf den Teller. Von den Bäuerinnen und Bauern über die Nahrungsmittelindustrie über die Detailhändler bis zu den Konsumentinnen und den Politikern sind alle gefordert und müssen zusammenarbeiten.

Frank Eyhorn (FE): Der vielversprechendste Ansatz für eine solche nachhaltige Umgestaltung – oder eben Transformation der Ernährungssysteme – ist die Agrarökologie, an der sich Biovision schon lange orientiert. Sie will in der Landwirtschaft die Dimensionen Umwelt, Gesundheit, Soziales, aber auch Wirtschaft in Einklang bringen und gezielt Synergien nutzen. Ziel ist es, genügend gesunde Nahrung im Einklang mit der Natur herzustellen, sowohl zu fairen Bedingungen für die Bauern wie auch zu bezahlbaren Preisen für die Konsumentinnen.

«Agrarökologie bietet den Ausweg aus der Sackgasse», Hans Rudolf Herren, Präsident von Biovision (Photo: Peter Lüthi)

Wo harzt es denn gerade am meisten in der Politik?

HRH: Für mich sind primär die Politikerinnen und Politiker in der Verantwortung, dass sich jetzt etwas ändert. Sie müssten die Rahmenbedingungen viel rascher anpassen und so gestalten, dass nachhaltige Lösungen in den Ernährungssystemen gefördert und von den Betroffenen weiterentwickelt und ausgebaut werden können. Im Ernährungssystem geht es halt auch um sehr viel Geld und wirtschaftliche Interessen. Gegen die Lobby der Agrarindustrie haben die Vertreter:innen der Agrarökologie meistens einen schweren Stand. Deshalb werden heute noch Entscheide gefällt, die aus nachhaltiger Sicht falsch sind. Allein in Äthiopien etwa werden zurzeit zirka zwölf grosse Kunstdüngerfabriken gebaut, obschon man weiss, dass es damit in die falsche Richtung geht. Ein Umdenken findet aber langsam statt. Das zeigt zum Beispiel die Gründung der Agrarökologie-Koalition am UN-Ernährungssystemgipfel.

An diesem internationalen Grossanlass vom Herbst in New York, den Hans erwähnt, sollte die Weltgemeinschaft neu über nachhaltige Ansätze für die Produktion und den Konsum von Nahrung nachdenken. Was ist dabei herausgekommen?

FE: Biovision war in der Schweiz und global an den Vorbereitungen für den UN-Ernährungssystemgipfel beteiligt. Gemeinsam mit vielen anderen Vertreter:innen von Organisationen aus der Wissenschaft, der Zivilgesellschaft und fortschrittlichen Regierungen haben wir versucht, das Ergebnis des Gipfels deutlich in Richtung mehr Nachhaltigkeit zu bewegen. Wir wollten einen Paradigmenwechsel: Weg vom Fokus auf möglichst hohe Erträge und billige Kalorien. Stattdessen sollten ganzheitliche Ansätze ins Zentrum rücken, die gesunde Nahrung für alle bereitstellen, produziert in einer Weise, die Umwelt, Tierwohl und Menschenrechte respektiert sowie allen einen fairen Lohn ermöglicht.

Und ist Euch das gelungen?

FE: Immerhin wurde Agrarökologie zum ersten Mal an einem UNO-Gipfel als wichtiger Ansatz anerkannt. Zu ihrer Förderung entstand eine breite Koalition, zu der auch die Schweiz gehört sowie bedeutende Organisationen wie die Afrikanische Union, die UNO Welternährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) und das Umweltprogramm der Vereinten Nationen UNEP. Eine wichtige Errungenschaft des Gipfels ist, dass man das Thema Ernährung jetzt systemisch betrachtet. Heute wird allgemein anerkannt, dass alles miteinander verbunden ist und sich gegenseitig beeinflusst: Landwirtschaft, Gesundheit, Umwelt, Wirtschaft, Menschenrechte, Klimawandel. Das bisher vorherrschende Denken und Handeln in thematischen Silos wurde ein Stück weit aufgebrochen.

HRH: Ich finde es sehr schade, dass Agrarökologie nur als eine Lösung neben anderen angesehen wird und daneben umweltschädliche Methoden der industriellen und der konventionellen Landwirtschaft weiterexistieren. Wenn die Transformation der Ernährungssysteme schnell genug gelingen soll, dann haben für mich Mainstream-Methoden der Agrarindustrie keinen Platz neben der Agrarökologie. Zu diesem Schluss war vor über zehn Jahren auch schon der Weltagrarbericht (International Assessment of Agricultural Knowledge, Science and Technology for Development IAASTD) gekommen.

Hans sagt es: Es gab auch Kritik am Gipfel. Die Koalition für Agrarökologie ist also gefordert, den Absichtserklärungen rasch konkrete Taten folgen zu lassen. Wo müssen die Hebel jetzt angesetzt werden?

FE: Die Politik ist der wichtigste Hebel, um die Rahmenbedingungen zu ändern und diesen Wandel hinzukriegen. Deshalb haben das Advocacy-Team von Biovision und ich selbst stark darauf hingearbeitet, dass am Gipfel auch Fortschritte bei der Gestaltung der politischen Rahmenbedingungen erreicht werden. Am Gipfel wurden dazu auch relevante Dokumente und Empfehlungen verabschiedet (siehe PDF «Policy Brief Governance of Food Systems Transformation»). Ein weiterer Hebel sind Investitionen (siehe Biovisions Money Flows Report). Hierzu führten wir eine vielbeachtete Auftaktveranstaltung durch und holten renommierte Akteure wie beispielsweise Entwicklungsbanken oder einflussreiche Impact-Investoren mit ins Boot. An konkreten Beispielen zeigten wir auf, dass es sich lohnt, mehr Mittel in agrarökologische Massnahmen fliessen zu lassen sowie kleine und mittelständige Unternehmen zu fördern, die sich in diesem Bereich engagieren (siehe The Economic Viability of Agroecology).

Ein nachhaltigeres Ernährungssystem ist auch in der Schweiz nötig. Seit ein paar Jahren setzt sich Biovision deshalb auch im Inland dafür ein. Wie geht Biovision dabei vor?

HRH: Es braucht in der Schweiz ein grösseres Verständnis, weshalb eine Umgestaltung des Ernährungssystems notwendig ist. Es geht nicht darum,dass ich Bio besonders gerne habe, nicht aber die Agrarindustrie. Doch wenn auf unseren Feldern weiterhin Chemie gespritzt wird, landet sie schlussendlich im Wasser und im Boden, wo sie nicht mehr zurückgeholt werden kann. Die Folgen davon sind aber noch während Jahren wirksam, zum Beispiel in Form des Artensterbens oder von gesundheitlichen Folgen bei den Menschen wie Krebs. Wenn wir uns weiterhin glaubhaft für einen Kurswechsel bei den Ernährungssystemen in Subsahara-Afrika oder auf der globalen Ebene einsetzen wollen, dann müssen wir auch dafür sorgen, dass sich in der Schweiz etwas verändert. Biovision hat bei diesem Thema viel Erfahrung und kann einen echten Beitrag leisten, damit die Agrarökologie auch in der Schweiz endlich vorankommt.

«Es ist jetzt wichtig, die starke Polarisierung zu überwinden», Frank Eyhorn, Geschäftsführer von Biovision (Photo: Peter Lüthi)

Im Moment sieht es aber mehr nach Stillstand aus in der Schweiz: Der Vorschlag des Bundesrats für eine etwas nachhaltigere Landwirtschaft (AP22+) wurde vom Parlament auf Eis gelegt, und an der Urne lehnte die Stimmbevölkerung zwei Initiativen für weniger Pestizide ab. Wie geht es jetzt trotzdem weiter?

FE: Ich denke es ist jetzt wichtig, die starke Polarisierung zu überwinden, die durch die Abstimmungen entstanden ist: Stadt gegen Land, Grün gegen Konservativ, Produzenten gegen Konsument:innen, und so weiter. Man muss nun aufeinander zugehen und gemeinsam erarbeiten, was für eine Art von Landwirtschaft, was für eine Art von Ernährungssystem wir als Gesellschaft wollen und welche Rahmenbedingungen es braucht, um dahin zu kommen.

HRH: In der Schweiz gibt es eine Kultur des Kompromisses, deshalb sind radikale Veränderungen sehr schwierig. Natürlich braucht es auch noch mehr Gespräche und weitere Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit. Mit Agrarökologie können Landwirt:innen sehr gute Erträge erreichen. Das wissen aber noch viel zu wenig Menschen – und vor allem Politiker:innen. Ein Hebel, mit dem rasch viel erreicht werden könnte, existiert bereits: die Landwirtschaftssubventionen. Diese sollten nur noch Bauern zugutekommen, die nach agrarökologischen Grundsätzen produzieren. Das braucht auch gar nicht mehr Geld, die Mittel müssen nur anders eingesetzt werden.

FE: Eine weitere Chance sehe ich darin, dass man sich auf vorhandene Vereinbarungen beruft: auf konkrete Ziele im Umweltschutz etwa oder die Strategie Nachhaltige Entwicklung und natürlich auf die UN-Agenda 2030. Zu diesen Strategien und Zielen haben die Gespräche und Verhandlungen bereits stattgefunden und es konnte ein Konsens erzielt werden. Jetzt müssen wir sie als Referenz für die Transformation des Ernährungssystems verwenden. Wenn sich die Betroffenen in diesem Sinn gemeinsam an einen Tisch setzen, dann lässt sich etwas bewegen.

Frank Eyhorn, Geschäftsführer zusammen mit Hans Rudolf Herren, Präsident von Biovision (Photo: Peter Lüthi)

Was ist Euer grösster Wunsch für das kommende Jahr bezüglich einer nachhaltigen und umweltfreundlichen Welternährung?

FE: Ich wünsche mir, dass die Dynamik und das Momentum, welche 2021 auch im Rahmen des UN-Ernährungssystemgipfels entstanden sind, anhalten und weitere Erfolge ermöglichen. Die offizielle Schweiz bekannte sich 2021 stark zu einer ganzheitlichen, nachhaltigen Transformation – sowohl in ihrer internationalen Arbeit als auch im Inland. Ich hoffe deshalb, dass der Dialog für ein nachhaltigeres Schweizer Ernährungssystem bald weitergeht und Biovision dabei eine förderliche Rolle spielen kann.

HRH: Ich bin sicher: das Bewusstsein für einen Kurswechsel wird weiterwachsen –auch bei den Konsumentinnen und Konsumenten. Es ist aber vor allem wichtig, bei den politischen Entscheidungstragenden dranzubleiben. Hier wünsche ich mir mehr Einsicht in die Ursachen der Probleme und dass ein «Weiter wie bisher» keine Option ist. Wenn auch unsere Kinder und Enkelkinder noch in einer intakten und vielfältigen Umwelt leben sollen, dann muss der Kurswechsel jetzt stattfinden.

 

Vielen Dank Hans und Frank für das Gespräch.

 
Agrarökologie Koalition

Ein Ergebnis des UN-Ernährungssystemgipfels ist die Bildung einer ehrgeizigen Koalition für die Umgestaltung der Lebensmittelsysteme durch Agrarökologie. In Verbindung mit dem Ausschuss für Welternährungssicherheit (CSF), seinem hochrangigen Expertengremium (HLPE) und relevanten UN-Organisationen und Interessenvertretern verfolgt sie folgende Ziele:

  • Umsetzung der politischen Empfehlungen des CFS zu agrarökologischen und anderen innovativen Ansätzen
  • Stärkung von Forschungs- und Entwicklungsprogrammen zur Unterstützung der agrarökologischen Transformation
  • Stärkung der Kohärenz der verschiedenen sektoralen Politiken, die auf die agrarökologische Transformation der Ernährungssysteme abzielen
  • Sicherstellen, dass öffentliche und private Investitionen die Übernahme und großflächige Umsetzung agrarökologischer Praktiken fördern

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