Seit Wochen gehen viele nicht mehr ins Büro, holen ihr Mittagessen nicht mehr im Take Away, gehen abends nicht mehr ins Restaurant. Dafür ist plötzlich wieder Zeit (und Lust!) da um zu kochen, Brot zu backen oder, wer einen eigenen Balkon oder Garten hat, Gemüse anzupflanzen. Der Hofladen im Biohof in der Nähe hat Hochkonjunktur und Städterinnen bevorzugen für den Einkauf den Bioladen um die Ecke.
Es scheint, als erwache in der Krise ein urmenschliches Bedürfnis nach Nähe zu unserer Nahrung. Eine Nähe, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten im Zuge der Industrialisierung der Nahrungsproduktion, des Aufstiegs des «Convenience Food» und der Beschleunigung des Alltags vielen verloren gegangen ist.
Der Lockdown bescherte uns viele Entbehrungen, es ist zu hoffen, dass wir bald wieder unsere Freunde und Verwandte besuchen und wir uns mit der schrittweisen Öffnung schon bald wieder normal in der Öffentlichkeit bewegen und begegnen können. Nicht wünschenswert ist hingegen eine Rückkehr zur alten Normalität eines bedenkenlosen Umgangs mit unserer Nahrung.
Ein krisenanfälliges System
Denn unser heute vorherrschendes industrielles Ernährungssystem hat uns längst in eine andere Krise geführt: Es trägt massgeblich zum Klimawandel bei und führte zu einem dramatischen Rückgang der Biodiversität. Die gängige industrielle Landwirtschaft hat sich als System entpuppt, das anfällig ist für globale Krisen und – mit dem Klimawandel immer häufiger auftretende – Wetterextreme, sie laugt die Böden aus und führt zu Fehl- und Mangelernährung. Dazu hat es das Problem des Hungers auf der Welt nicht gelöst, im Gegenteil: Seit einigen Jahren nimmt der Hunger auf der Welt wieder zu, die Corona-Pandemie wird die Lage wohl zusätzlich massiv verschärfen (zum Report des World Food Programme).
Die Covid-19-Pandemie hat uns zusätzliche Probleme vor Augen geführt: Unsere Nähe zu Tieren, insbesondere für den Fleischkonsum, führt immer häufiger dazu, dass Viren vom Tier auf den Menschen übergehen. Die globalisierten Handels- und Personenströme haben das neuartige Coronavirus in wenigen Wochen und Monaten um den ganzen Erdball verteilt.
Übermassiger Fleischkonsum – und die Anwendung von Antibiotika in grossem Stil in der Fleischindustrie – ist einer der zentralen Faktoren in der Verbreitung von Infektionskrankheiten. Aber er ist nicht der einzige Aspekt der industriellen Landwirtschaft, der eine Gefahr für die menschliche Gesundheit darstellt.
Gebrauch von Pestiziden führt zu Resistenzen
Auch der grossflächige Gebrauch von Pestiziden führt zu Resistenzen. Schädlinge, die Ernten vernichten, aber auch solche, die Krankheiten verbreiten, passen sich zunehmend an und werden resistent gegenüber gängigen chemischen Insektenvernichtungsmitteln.
Pestizide stehen unter Verdacht, dass sie bei übermässigem Gebrauch die Krebsrate erhöhen, zu Geburtsfehlern und Entwicklungsstörungen bei Kindern führen und das menschliche Immunsystem schwächen können und damit anfällig machen für das Eindringen von Parasiten. Dieser Effekt ist insbesondere für Millionen von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in wirtschaftlich schwachen Länder mit schlecht funktionierenden Gesundheitssystemen verheerend.
Schliesslich fördern grosse Monokulturen, wie sie in der industriellen Landwirtschaft üblich sind, die Verbreitung von Krankheiten – aufgrund des sogenannten «Verdünnungseffekts» trägt hingegen eine hohe Biodiversität zu einer niedrigen Infektionsrate bei Menschen wie bei Tieren bei.
Den Wert des Essens neu entdecken
Es ist zu wünschen, dass wir in der gegenwärtigen Krise den Wert des Essens neu entdecken. Den Wert von Essen, das gesund ist für uns, nicht die Grundlagen der Nahrungsproduktion zerstört, sowie dazu beiträgt, Infektionskrankheiten wie Covid-19 in Schach zu halten – oder gar nicht erst entstehen zu lassen.
Jetzt bietet sich uns die Chance, einen neuen Zugang zu finden. Behalten wir uns die «Lockdown-Gewohnheiten» bei, kaufen wir unsere Lebensmittel weiter beim Bio-Bauern in Velodistanz, im Bio-Laden im Dorf oder allenfalls sogar über die Gemüsekooperative, die nicht nur gesunde und fair produzierte Nahrungsmittel liefert, sondern durch eine Mitarbeit auf dem Feld auch gleich unsere Beziehung zur Nahrungsproduktion stärkt.
Die Corona-Krise hat die Ernährungskrise nur überdeckt, aber keineswegs beseitigt, sondern im Gegenteil noch verschärft. Sollten wir in den nächsten Wochen und Monaten wieder zurück in eine Alltagsnormalität finden, so stecken wir immer noch mitten in einer Krise unseres Ernährungssystems, mit Millionen Hungertoten sowie grossen Risiken für die Gesundheit von uns allen. Packen wir jetzt diese Krise an und arbeiten wir an einem Umbau hin zu einem nachhaltigen, agrarökologischen Ernährungssystem. Die Situation erlaubt keinen Aufschub – und die Gelegenheit ist günstig.
Dieser Text basiert auf den Artikeln «Cette crise nous donne l’occasion de repenser et de panser nos liens à l’alimentation» erschienen in der Zeitung «Terre et nature», verfasst von Alessandra Roversi, unserer Verantwortlichen Nachhaltiger Konsum und Kommunikation in der Westschweiz sowie «Beyond Meat – the food on your plate and Covid-19» verfasst von Shruti Patel, unserer Programmverantwortlichen für das Farmer Communication Programme.