«In Pflanzen steckt ein grandioses ungenutztes Potenzial für die Landwirtschaft»

Von

Florian Blumer, Biovision

Die Biologin und Autorin Florianne Koechlin kämpft seit Jahrzehnten für einen sorgsamen Umgang mit der Natur. In ihren Büchern beschreibt sie, wozu Pflanzen fähig sind – und fordert, dass wir einen respektvollen Umgang mit ihnen finden.

Florianne Koechlin, wer oder was ist eine Pflanze?

Florianne Koechlin: In der Schule hatte ich gelernt, dass eine Pflanze etwas ist, das isoliert im Boden steckt. Von unten kommt Wasser, von oben CO2, sie macht Photosynthese – so etwas wie ein lebendiger Bio-Automat, der sein genetisches Programm abspult.

Das ist schon lange nicht mehr ihre Sicht …

Nein. Es gibt immer mehr Forschung, die aufzeigt, dass Pflanzen mit Duftstoffen kommunizieren, dass sie sich unterirdisch vernetzen, dass sie lernen können – also Subjekte sind. Das stellt das herkömmliche Pflanzenbild vom Kopf auf die Füsse. Für mich ist die richtige Frage also, «wer» eine Pflanze ist, und nicht «was».

Gerade die Idee, dass Pflanzen lernen können, wird heute noch von vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern abgelehnt.

Als Antwort ein einfaches Beispiel: In den USA wurden Tomatenpflanzen in einem Gewächshaus acht Generationen lang ohne Schädlinge aufgezogen. Dann setzten die Forschenden Raupen auf die Pflanzen. Die Tomaten begannen, sich langsam zu wehren. Einmal angegriffene Pflanzen konnten sich dann bei einer späteren Attacke schneller und effizienter wehren. Sie erinnerten sich daran, wie sie die früheren Angriffe pariert hatten. Sie lernten, ihre Abwehr schneller zu mobilisieren. Es gibt in der Pflanzenwelt noch viele andere Beispiele.

Viele Forschende sagen, man vermenschliche Pflanzen, wenn man ihnen Lernfähigkeit zuspricht.

Letztlich ist das nicht eine wissenschaftliche Frage, sondern eine philosophische. Auch beim Menschen wissen wir über die molekularbiologischen Grundlagen des Lernens noch sehr wenig. Wie definieren wir also lernen? So, dass es nur den Menschen einschliesst? Oder auch die Tiere? Oder auch die Pflanzen? Die Wahl der Definition hängt davon ab, wie wir Pflanzen in der Natur sehen. Rücken wir sie näher zu seelenlosen Maschinen oder näher zu Tieren und Menschen? Man kann sagen: Lernen heisst, ein Lebewesen erinnert sich an ein vergangenes Ereignis und ändert daraufhin sein Verhalten. Das können Pflanzen.

Ist Pflanzenkommunikation mehr als simpler Informationsaustausch?

Pflanzen kommunizieren aktiv und flexibel: Sie locken Nützlinge an, senden SOS-Signale aus, warnen sich gegenseitig, koordinieren ihre Verhalten. Nehmen Sie zum Beispiel eine Maispflanze: Wird sie von Raupen angegriffen, produziert sie einen Duftstoff, der Schlupfwespen anzieht. Diese parasitieren die Raupen. Wird sie aber von Spinnmilben angegriffen, sendet sie einen etwas anderen Duftstoff aus. Dieser lockt Raubmilben an, diese fressen die Spinnmilben. Die Maispflanze schmeckt am Speichel des Insekts, wer sie gerade angreift und lockt mit einem Duftstoff den geeigneten Bodyguard an. Ist das nicht unglaublich? Unsere Maispflanze warnt auch ihre Nachbarinnen vor einem Angriff.

Haben Sie ein weiteres Beispiel?

Gerne: Ein Forscherteam aus Jena hat Wilden Tabak gezüchtet, der nicht schmecken und nicht riechen, also nicht kommunizieren konnte. Sie pflanzten ihn in eine Reihe zwischen normalen Wilden Tabak – er ist im Nu aufgefressen worden. Im Gegensatz zu seinen Nachbarinnen konnte er nicht kommunizieren und sich nicht auf ein Beziehungsnetz stützen – und war deshalb verloren.

Pflanzen pflegen Beziehungsnetze? Das müssen Sie erklären.

Wichtig ist da – unter anderem –, wie sich unter der Erde Wurzeln verschiedenster Pflanzen und Pilze zu einem riesigen Geflecht verbinden, dem so genannten Mykorrhiza-Netz. Über dieses Netz werden Nährstoffe, Wasser und auch Informationen ausgetauscht. Eine Forschergruppe nannte dies «das unterirdische Internet». Wahrscheinlich sind Pflanzen noch viel stärker auf Beziehungsnetze angewiesen als Tiere und Menschen – weil sie nicht vor einem Feind davonrennen können.

Sie sprechen in ihren Büchern von einem dynamischen Marktplatz unter dem Boden.

Ja, ein Team um Andres Wiemken von der Uni Basel stellte die Hypothese auf, dass bei geeigneten Mischkulturen unter dem Boden ein Geben und Nehmen herrscht: Pflanzen mit langen Wurzeln bringen Wasser ins Mykorrhiza-Netz; solche, die gut Photosynthese machen können, bringen Zuckerverbindungen ein. Pflanzen geben hinein, was sie zu viel haben und nehmen sich, was ihnen fehlt.

Eine einzige Harmonie unter dem Boden also?

Nein, und das ist mir wichtig zu betonen: Da geht nicht alles lieb und nett zu. So fand man zum Beispiel heraus, dass Tagetes-Blumen ein Pflanzentoxin produzieren und ins Mykorrhiza-Netz abgeben – so können Pflanzen in der näheren Umgebung nicht gut wachsen.

Haben Sie eine Vermutung?

Nein. Weil ich glaube, dass es gerade in der Wissenschaft wichtig ist, dass wir uns bewusst sind, was wir wissen, und was eben nicht. Und dass wir mit Nichtwissen umgehen können. Da wir uns nicht in sie hineinversetzen können, werden wir nie wirklich wissen, was – oder eben wer – Pflanzen sind. Was die Gefühle angeht: Man kennt bei Pflanzen Hormone und Enzyme, die bei der Schmerzempfindung des Menschen wichtig sind. Aber wir haben dazu keine Indizienkette. Es ist deshalb heute genauso spekulativ zu sagen, Pflanzen empfinden Schmerzen, wie zu sagen, sie tun es nicht. Wir wissen, dass Pflanzen irgendwie merken, wenn ihnen etwas nicht guttut und darauf reagieren. Aber wie sie das machen, wissen wir nicht.

Dennoch, wie Sie in Ihren Büchern eindrücklich darlegen, wissen wir heute viel Verblüffendes über das Leben der Pflanzen. Stichwort Industrielle Landwirtschaft: Denken Sie, dass wir zu achtlos, ja respektlos mit den Pflanzen umgehen?

Ja, auf jeden Fall. Pflanzen sind keine Objekte, sondern Lebewesen. Wir müssen uns fragen: Wo liegen die Grenzen im Umgang mit ihnen?

Zu welchen Erkenntnissen sind Sie gekommen?

Eine Sache, für die wir uns seit den 1980er-Jahren einsetzen, ist, dass Pflanzen nicht patentiert werden dürfen wie Maschinen oder Chemikalien. Da geht es auch um soziale Gründe: dass Bäuerinnen und Bauern nicht in eine Abhängigkeit geraten wegen patentiertem Saatgut. Doch ebenso wichtig ist mir, dass Pflanzen nie und nimmer eine «Erfindung» darstellen, die irgendeiner Firma gehört. Niemand kann Leben erfinden. Die Frage nach dem respektvollen Umgang ist jedoch schwierig zu beantworten. Das muss man immer wieder und immer weiter diskutieren. Was mich aber auch interessiert, ist das grandiose Potenzial, das in Pflanzen steckt und das für die Landwirtschaft genutzt werden kann.

Konkret?

Ich gebe gerne ein Beispiel: In einer heutigen Monokultur werden die Maispflanzen von unten und oben bespritzt. Dass Pflanzen sich unter dem Boden vernetzen, gegenseitig warnen, Nützlinge anziehen können: Dieses riesige Potenzial bleibt in einer Monokultur völlig ungenutzt. Untersuchungen des schweizerischen Forschungsinstituts für Biologischen Landbau FiBL zeigen, dass Maispflanzen in Monokulturplantagen viel weniger Mykorrhiza-Netze bilden – was wenig überraschend ist. Warum sollten sie auch?

Und in Mischkulturen?

Ich bringe da an jedem meiner Vorträge das Beispiel Push-Pull, eine ökologische Methode zum Anbau von Mais und Hirse, deren Verbreitung in Afrika ja Biovision schon seit Jahren unterstützt. Eine sehr effektive Methode, die auf die Fähigkeit der Pflanzen setzt, mittels Duftstoffen Schädlinge abzustossen und Nützlinge anzulocken. Keine Pestizide, keine Gentechnik – und vor allem: es befreit Bäuerinnen und Bauern von der Abhängigkeit von Agrarkonzernen.

Welches Potenzial sehen Sie in Mischkulturen?

Mischkulturen sind ein zentraler Punkt in der Errichtung einer nachhaltigen Landwirtschaft. Und zwar überall. Dass sie in Entwicklungsländern wichtig sind, ist heute Common Sense, weil sich viele Kleinbäuerinnen und Kleinbauern dort das Betreiben von Monokulturen gar nicht leisten können, wegen den Kunstdüngern und den synthetischen Pestiziden, die es dafür braucht. Das Potenzial von Mischkulturen ist aber auch bei uns gross. Forscherinnen und Forscher aus China und den Niederlanden haben kürzlich in der bisher weltweit grössten Metastudie zu diesem Thema aufgezeigt, dass Mischkulturen im Schnitt bis zu 30 Prozent mehr Ertrag geben – ob biologisch oder konventionell. Gleichzeitig brauchen sie viel weniger Pestizide und synthetischen Dünger (Li C. et al, 2020. Syndromes of production in intercropping impact yield gains. Nature Plants, 6, S. 653-660).

Und doch hält sich die Vorstellung hartnäckig, dass Monokulturen ertragreicher sind.

Ich glaube, das ist eine kulturelle Sache. «Monokultur gleich hoher Ertrag»: Das steckt tief in den Köpfen. Die Umstellung auf Mischkulturen bedingt natürlich auch weitere Veränderungen: So bräuchte es leichtere Maschinen – was aber sowieso wichtig wäre wegen der Verdichtung des Bodens.

Wenn Sie sich die Landwirtschaft der Zukunft vorstellen, woran denken Sie?

Die Antwort darauf ist nicht wahnsinnig neu. Sie lautet: Agrarökologie. Ich habe dies auch in meinem neuesten Buch mit Biovision-Präsident Hans Herren diskutiert: Es braucht mehr Vielfalt, Aufbau von Humus, der Boden sollte immer bedeckt sein, Schliessen von Kreisläufen – und eine funktionierende Gemeinschaft mit funktionierendem Markt. Es geht immer um das ganze System.

Im Buch zeigen Sie auf, dass Agrarökologie auch im grösseren Massstab keine Utopie ist.

Ja, ich habe Andra Pradesh besucht. Das ist ein indischer Bundesstaat, so gross wie Österreich, die Schweiz und Belgien zusammen, mit 6 Millionen Bäuerinnen und Bauern. Dessen Regierung verfolgt das Ziel, bis 2031 komplett pestizidfrei zu produzieren. Weitere Ziele sind eine möglichst grosse Vielfalt auf dem Feld, dass der Boden immer grün ist und alle Produktionsmittel lokal hergestellt werden. Es ist die weltweit grösste Umstellung auf Agrarökologie.

Wollen das auch die Bäuerinnen und Bauern?

Natürlich: Sie erhalten Sicherheit, immer etwas zu essen und werden unabhängig. Selbstverständlich ist es auch ein Riesenschritt voller Risiken. Manchmal geht es auch schief, sie werden aber von der Regierung bei der Umstellung unterstützt – es ist eine Revolution von oben und von unten.

Welche Schlüsse haben Sie aus diesem Praxisbeispiel gezogen?

Natürlich ist die Situation in Indien eine komplett andere als in der Schweiz oder auch in Afrika. Aber zu sehen, dass ein agrarökologisches System von dieser Grösse in der Praxis funktioniert, das war toll. Und ja, das ist auch hier möglich! Darum halte ich die Pestizid-Initiative und die Trinkwasserinitiative für wichtig. Wie Hans Herren sagt, und mit ihm viele andere: Wir wissen, wie es geht, die Weltbevölkerung mit Agrarökologie zu ernähren. Die Grundlagen sind da. Wir müssen nun daran arbeiten, dass dies umgesetzt wird, auf allen Ebenen. Es ist auch eine politische Frage, eine Machtfrage. Da müssen wir ansetzen.

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