Push-Pull in Äthiopien: Nachhaltige Landwirtschaft für mehr Erträge.
Knietief stehen die Frauen im saftig grünen Gras, greifen mit beiden Händen in die schlammige Erde und ziehen das Unkraut, das sich zwischen den einzelnen Pflanzen versteckt, aus dem Boden. Dabei überprüfen sie, ob die kleinen Rinnsale zwischen den Anbaureihen ungestört fliessen können. Staunässe ist nicht gut für die jungen Gräser, die sie vor wenigen Monaten auf diesem Feld in der Nähe von Hawassa im Süden Äthiopiens gepflanzt haben und nun sorgsam hüten.
Was auf den ersten Blick wie ein gewöhnliches Reisfeld aussieht, ist nämlich eine Setzlingfarm voller Brachiaria, einer Pflanze mit ganz besonderen Eigenschaften. Noch sind die Triebe jung, doch die Frauen hoffen, sie schon in wenigen Monaten an die Bäuerinnen und Bauern der Region zu verkaufen und dadurch ein eigenes Einkommen zu erzielen. Denn die Nachfrage nach Brachiaria steigt – und mit ihr auch das Interesse am Anbau.
Mehr als ein Gras
Die 32-jährige Roman Damenu ist Vorsitzende der Frauenkooperative, die hier das Feld bestellt. «Die allermeisten von uns sind mit Bauern verheiratet», erklärt die Witwe und Mutter von sechs Kindern: «Normalerweise heisst das: Hilf deinem Mann, wo du kannst, kümmere dich um den Haushalt und erzieh die Kinder! Mit Brachiaria hoffen wir, selbst etwas Geld zu verdienen.»
Der Grund für die Hoffnung von Damenu und der anderen Frauen: Brachiaria ist ein unverzichtbarer Bestandteil der sogenannten Push-Pull-Methode, auf die Biovision und ihre Partnerorganisation, das Insektenforschungsinstitut Icipe, seit Jahren setzen. In den für die Region so wichtigen Maisfeldern werden hierfür zwei Pflanzen gesetzt: Desmodium, eine bodendeckende Hülsenfrucht zwischen den Anbaureihen, sorgt für die Push-Komponente. Sie gibt natürliche Stoffe ab, die bestimmte Schädlinge wie den gefürchteten Maiszünsler vertreiben. Ausserdem bindet Desmodium Stickstoff im Boden und verbessert so dessen Fruchtbarkeit. Brachiaria hingegen liefert die Pull-Komponente: Die Lockpflanze zieht die Schädlinge an und hält sie vom Mais fern. So bleibt die eigentliche Nutzpflanze unversehrt – ganz ohne synthetische Pestizide.
Damenu weiss: «Brachiaria schützt nicht nur Mais oder Bohnen. Die Gräser der Pflanze sind perfektes Viehfutter. Mit ihnen lässt sich die Milchproduktion in kurzer Zeit fast verdoppeln.» Wegen der vielfältigen Vorteile hat sich Damenu mit den anderen Frauen zusammengetan und auf dem Feld, das ihnen die regionale Regierung des Bezirks Sidama zur Verfügung stellt, im März 2024 erstmals Brachiaria gepflanzt. «Seitdem sind wir fast täglich zusammen auf dem Feld und sehen nach den Pflanzen. Wir sind ein Team. Es ist praktisch noch nie vorgekommen, dass eine von uns beider Arbeit gefehlt hat», erzählt Damenu und legt bei diesen Worten einen Arm über die Schulter der Frau an ihrer Seite. Ein halbes Jahr nach der Aussaat blicken sie stolz auf die Hunderte von Pflanzen. In wenigen Monaten wollen sie mit der Ernte beginnen.
«Wir möchten den Bauernfamilien in der Umgebung entweder Grasbündel als Viehfutter oder einzelne Setzlinge verkaufen », sagt Damenu. 30 Birr – umgerechnet rund 20 Rappen – soll ein Bündel einbringen. Für eine Pflanze samt Wurzel, die direkt als Setzling dient, lässt
sich ein deutlich höherer Preis erzielen. «Wie viel genau, hängt auch davon ab, wie viele Bäuerinnen und Bauern künftig Push-Pull anwenden», erklärt sie.
Mungobohnen als Weiterentwicklung
Und die Chancen stehen gut, dass die Zahl der Bauernfamilien, die auf Push-Pull setzen, weiter steigt. Denn die Methode hat sich als effektiv und nachhaltig bewährt: Sie ist günstiger, weil die Kosten für chemische Pestizide oder Dünger wegfallen. Gleichzeitig steigen die Bodengesundheit sowie die Erträge aus Anbau und Viehhaltung.
«Hier sind wir noch einen Schritt weitergegangen», erklärt Dr. Tadele Tefera, Landesleiter von Icipe in Äthiopien und massgeblich beteiligt an der strategischen Ausarbeitung des Projekts: «Neben Brachiaria und Desmodium pflanzen wir im Maisfeld auch Mungobohnen. Diese binden ebenfalls Stickstoff und helfen der Bodenfruchtbarkeit. Gleichzeitig erhöhen sie die Sicherheit der Bauernfamilien gegen komplette Ernteausfälle. Sollte es mit dem Mais nicht klappen, dann bleiben die Bohnen. Und umgekehrt.»
Neue Lieferketten entstehen
Dr. Tadele Tefera begleitet zusammen mit Biovision nicht nur Bäuerinnen und Bauern, die Push-Pull einsetzen wollen. Auch Frauengruppen, wie jene von Roman Damenu, erhalten Schulungen und Unterstützung: «Wir fördern gezielt die Vernetzung zwischen Bauernfamilien und lokalen Saatgutproduzierenden wie dieser Frauengruppe. Die grösste Schwierigkeit bleibt der Zugang zu Brachiaria- und Desmodium-Samen.»
Der Markt für solches Saatgut wird weltweit nämlich von wenigen grossen Firmen dominiert, was Kleinbauernfamilien oft in Abhängigkeiten zwingt. Lokale Initiativen wie jene von Biovision und Icipe stärken die Selbstständigkeit der Bauernfamilien und verbessern den Zugang zu Samen nachhaltig. «So sinkt die Abhängigkeit von teuren Importen, während die Verfügbarkeit von hochwertigem und günstigem Saatgut vor Ort steigt», führt Tefera aus: «Mit dem Anbau der Gräser eröffnet sich den Menschen ausserdem eine zusätzliche Einkommensquelle.»
In den letzten Jahren konnte Biovision zusammen mit Icipe Hunderte Bäuerinnen und Bauern in der Region um Hawassa für die Push-Pull-Technik gewinnen. Und aus der Not der fehlenden Samen haben die Frauen rund um Roman Damenu eine Tugend gemacht: «Die Bäuerinnen und Bauern haben gemerkt, was für Vorteile diese Gräser bringen. Wir sind uns sicher: Wenn unsere Brachiaria endlich gross genug sind, werden alle bei uns kaufen wollen.»
Ein Schritt in Richtung Unabhängigkeit
Auch wenn noch grosse Herausforderungen auf sie warten, blicken Damenu und die anderen Frauen hoffnungsvoll in die Zukunft: «Bislang haben wir mit Brachiaria noch kein Geld verdient. Die Gräser brauchen noch etwas Zeit. Wir hoffen aber, dass sich die Mühe bald auszahlt.» Die Einnahmen aus dem Verkauf von Brachiaria könnten für die Frauengruppe eine entscheidende Veränderung bedeuten. In einer Region, in der stabile Einkommen selten sind, bietet der Anbau der Gräser den Frauen die Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt selbst mitzugestalten und ihre Familien finanziell zu unterstützen. «Das Geld aus unserem Brachiaria-Anbau verspricht uns nicht nur einen Zusatzverdienst für unsere Familie, sondern auch mehr Unabhängigkeit», sagt Damenu.
Die Pläne der Frauen bleiben ehrgeizig. Noch stellt ihnen die Regierung das Land zur Verfügung, doch allein darauf wollen sie sich nicht verlassen. «Wenn unsere erste Ernte gut wird, werden wir uns nach einem eigenen Feld umschauen: Wir wollen unser eigenes Stück Land! Darauf soll überall Brachiaria wachsen, das wir an die Bäuerinnen und Bauern im ganzen Bezirk verkaufen. Push-Pull lohnt sich – für die Bauernfamilien, für den Boden und für uns.»