«Damit wir eine Zukunft haben, müssen wir jetzt etwas ändern»

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Interview Florian Blumer, Biovision

Geschäftsführer Frank Eyhorn über die Rolle von Biovision bei der Transformation der Ernährungssysteme – und wo er Anlass zur Hoffnung sieht.
Frank Eyhorn, Geschäftsführer von Biovision im Portrait

Frank Eyhorn, warum engagiert sich Biovision für die Transformation hin zu nachhaltigen Ernährungssystemen?

Die Nahrungsmittelproduktion ist die menschliche Aktivität, die das Gesicht der Erde am stärksten prägt. Das Ernährungssystem – vom Acker bis zum Teller – verursacht rund 30% der Treibhausgase und es spielt eine zentrale Rolle beim Rückgang der Biodiversität und dem Verlust fruchtbarer Böden. Wenn wir es schaffen, die Landwirtschaft und das Ernährungssystem zu verändern, können wir einen grossen Beitrag zur Lösung einiger der drängendsten Probleme der Gegenwart leisten: Eine agrarökologische Landwirtschaft erhält die Artenvielfalt, erhöht die Widerstandfähigkeit gegen klimabedingte Veränderungen, stellt gesunde Nahrung zur Verfügung und ermöglicht Bäuerinnen und Bauern ein gutes Einkommen.

Nun ist aber eines der am häufigsten vorgebrachten Argumente gegen einen ökologischen Wandel, dass ohne industrielle Landwirtschaft nicht genügend Nahrung für eine wachsende Weltbevölkerung produziert werden könnte.

Diese Einschätzung beruht auf einer Fehldarstellung: Menschen hungern nicht, weil zu wenig Essen produziert würde. Wir stellen weltweit mehr als genügend Nahrungsmittel her – pro Person zum Beispiel rund 350 Kilogramm Getreide pro Jahr. Ein grosser Teil davon wird aber Nutztieren verfüttert, für industrielle Zwecke genutzt, zu Treibstoff verarbeitet oder landet, als Food Waste, im Müll. Wir haben also kein Problem mit der Produktivität, sondern mit dem Zugang zu gesunder Nahrung. Und dieser lässt sich gerade in ländlichen Gebieten Afrikas mit kleinbäuerlicher Struktur durch eine diversifizierte Landwirtschaft mit agrarökologischen Ansätzen stark verbessern.

Können Sie das erläutern?

Durch den gleichzeitigen Anbau verschiedener Kulturen erhöhen agrarökologische Systeme die Widerstandfähigkeit von Bauernbetrieben gegenüber Krisen – indem Ernteausfälle bei einer Kultur durch den Ertrag über andere Kulturen aufgefangen werden können. Oder auch in der Vermarktung: Wenn die Preise für ein Produkt fallen, betrifft das nicht gleich die ganzen Einnahmen einer Bauernfamilie.

Wie engagiert sich Biovision auf politischer Ebene für die Transformation der Ernährungssysteme?

International steht die Arbeit mit den UNO-Organisationen und mit Regierungen einzelner Staaten im Zentrum, insbesondere in unseren Projektländern in Ostafrika. Vor zwei Wochen lancierten wir an der Jahrestagung des Welternährungsausschusses – zusammen mit der Welternährungs- und -landwirtschaftsorganisation FAO, der deutschen und der Schweizer Regierung – eine Plattform, auf der Regierungsvertreterinnen und -vertreter ihre Erfahrungen mit agrarökologischen Ansätzen austauschen. Diese stiess auf grosses Interesse. Wir sind hoffnungsvoll, dass sich zunehmend ein Paradigmenwechsel vollziehen wird, der eine tiefergreifende Veränderung möglich macht.

Wo stehen wir in der Schweiz auf dem Weg in Richtung einer nachhaltigen Landwirtschaft?

Wir sehen die Schweiz gerne als Vorreiterin in Sachen Umweltschutz – zumindest in der Landwirtschaft lässt sich dies mit Fakten nicht belegen: In der Produktion haben wir einen hohen Verbrauch von fossilen Energieträgern, wir produzieren auf fast 60% der Ackerfläche Tierfutter, in Bezug auf den Pestizid-Einsatz sind wir sicher nicht besser als die umliegenden Länder und von 12 selber gesetzten Umweltzielen in der Landwirtschaft wurde kein einziges vollständig erreicht.

Wie sieht es in den Nachbarstaaten aus, in der EU?

Die Europäische Union hat dieses Jahr mit ihrer «Farm to Fork»-Strategie einen grossen Schritt nach vorne gemacht. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, dass bis 2030 25% aller Flächen biologisch bewirtschaftet werden und der Einsatz von Pestiziden um 50% reduziert wird. Die Schweiz hat keine vergleichbar ambitionierten Ziele.

Warum sind wir in der Schweiz nicht weiter?

Wir haben hierzulande eine sehr starke Agrarlobby, die seit vielen Jahren grossen Einfluss auf die Politik nimmt. Eben hat sie erreicht, dass die Agrarpolitik 22+, eine Weichenstellung mit vielen guten Ansätzen bezüglich Nachhaltigkeit, im Parlament sistiert wurde. Es gibt in der Schweiz starke Kräfte, die im Status Quo verharren wollen. Doch immer mehr Menschen, auch Bäuerinnen und Bauern, wünschen sich eine Veränderung, eine Landwirtschaft, die langfristig eine Lebensgrundlage bietet. Davon zeugen auch die Pestizidinitiativen, die nächstes Jahr zur Abstimmung kommen werden.

Sehen Sie weitere Entwicklungen, die Hoffnung machen?

Es ist insbesondere die junge Generation, die sich zunehmend Gedanken macht. Mit der Bewegung «Landwirtschaft mit Zukunft» nimmt sie eine Vorreiterrolle ein in der Entwicklung einer zukunftsfähigen Landwirtschaft. Die Bewegung bringt alle wichtigen Akteurinnen und Akteure aus dem Ernährungssystem zusammen, junge Bäuerinnen und Bauern, Menschen aus der Gastronomie und verarbeitenden Betrieben, um zu diskutieren: Wie können wir die Weichen stellen, damit wir in Zukunft das Ernährungssystem haben, das wir wollen?

Könnte die Jugend bei der Transformation der Ernährungssysteme eine ähnliche Rolle spielen wie beim Klimawandel?

Ich kann mir gut vorstellen, dass hier gerade eine nächste grosse Bewegung am Entstehen ist.

Ein Slogan von «Landwirtschaft mit Zukunft» lautet: «Essen ist politisch». Sehen Sie das auch so?

Die junge Generation merkt zunehmend, welch entscheidende Rolle die Landwirtschaft und das ganze Ernährungssystem bei den Herausforderungen unserer Zeit spielt: dem Klimawandel, dem Biodiversitätsverlust, der Fehlernährung. Ihnen ist bewusst: Um mittelfristig eine Zukunft zu haben, müssen wir jetzt etwas ändern. Die täglichen Entscheidungen, die wir bei der Wahl unseres Essens treffen, haben einen grossen Einfluss auf die Umwelt und auf das Leben anderer Menschen. Wie wir uns entscheiden, wird wiederum von den Rahmenbedingungen von Konsum und Produktion beeinflusst. Hier muss die Politik ansetzen.

Wie kann Biovision die Transformation der Ernährungssysteme in der Schweiz unterstützen?

Unsere Rolle besteht darin, Fakten und Alternativen aufzuzeigen sowie die Akteurinnen und Akteure zusammenzubringen, um im Interesse einer nachhaltigen Entwicklung die Rahmenbedingungen richtig zu setzen – zu sensibilisieren, Wissen zu verbreiten und die Bewegungen zu unterstützen, die sich für eine zukunftsfähige Politik einsetzen. So unterstützen wir «Landwirtschaft mit Zukunft» in ihren Anstrengungen, ein Ernährungsparlament durchzuführen und eine Ernährungspolitik zu entwickeln.

Die Schweiz befindet sich, wie viele andere Länder, mitten in der zweiten Corona-Welle. Bremst die weltweite Pandemie die Transformation zu nachhaltigen Ernährungssystemen – oder fördert sie den Wandel gar?

Krisen beschleunigen bekanntlich Veränderungen. Dies zeigt sich bei Corona insofern, dass sich viele Menschen bewusster geworden sind, wie wichtig eine gesunde Ernährung und eine nachhaltige, lokale Produktion sind. Gleichzeitig verdrängt die Pandemie Themen wie Klimawandel und Biodiversitätsverlust aus den Medien – obwohl dies mittelfristig die viel bedrohlicheren Krisen sind.

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