«Chancenjahr 2020» dank ökologischem Aufwind?

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Interview: Florian Blumer, Reporter und Redaktor

Mit den Themen Agrarpolitik 22+, zwei Pestizid- und der Massentierhaltungsinitiative sowie einem neuen Freihandelsabkommen ist in der Schweiz 2020 das Jahr der Landwirtschaft. Auf welche Veränderungen und Fortschritte dürfen wir in der Schweiz hoffen, nachdem die ökologische Anliegen bei den letzten Wahlen mehr Zuspruch erhielen? Wir sprachen darüber mit unserer Stiftungsrätin Maya Graf, Bio-Bäuerin und langjährige Landwirtschaftspolitikerin.
Maya Graf
Maya Graf, Ständeratin (Grüne/BL) und Biobäuerin steht durch ihr Engagement für die Umsetzung des Weltagrarberichtes (IAASTD) seit 2008 in Verbindung mit Biovision. Seit vielen Jahren engagiert sie sich erfolgreich für eine gentechfreie nachhaltige Schweizer Landwirtschaft und für den Tierschutz. Maya Graf ist Co-Präsidentin von Hochstamm-Suisse und Stiftungsrätin der ProSpecieRara. Seit November 2014 ist sie auch Co-Präsidentin von alliance F, dem Bund der Schweizer Frauenorganisationen.

Der Schweizerische Bauernverband sprach an seiner Jahrespressekonferenz von einem «Schicksalsjahr» für die Landwirtschaft. Ist es das?

Ich würde dieses „Schicksalsjahr“ lieber als „Chancenjahr“ verstehen. Nicht in der fatalistischen Art, wie ich sie beim Bauernverband heraushöre. Die Bio-Bäuerinnen und -Bauern und viele weitere Bauernfamilien waren immer offen für Veränderungen, sind innovativ und stellen sich den Herausforderungen. Ich denke, jetzt ist vor allem die Politik gefordert – das Parlament, der Bundesrat und die Departemente.

Ende letztes Jahr herrschte viel Euphorie nach der «grünen Welle» bei den Nationalratswahlen. Dann folgte die Ernüchterung: Der Ständerat entschied in der ersten Session in vielen Geschäften nicht im ökologischen Sinn, etwa beim Gewässerschutz. Wie hast du diese Session erlebt?

Die Grünen stellen zwar erstmals eine eigene Fraktion im Ständerat, sind aber mit der SP immer noch klar in der Minderheit. Das heisst, für Mehrheiten braucht es Vertreterinnen und Vertreter von FDP oder CVP, die bereit sind, bei Themen wie Pestizide, Klima-, Landschafts-und Artenschutz auf uns zuzukommen. Hier hapert es im Moment – das kann sich aber noch ändern. In den letzten vier Jahren war es umgekehrt. Die Fortschritte kamen aus dem Ständerat, im Nationalrat wurde blockiert. Es waren praktisch vier verlorene Jahre. Es wird spannend sein zu sehen, wie sich das nun entwickelt. Das Signal aus der Bevölkerung ist klar: Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger wollen, dass wir die Umweltprobleme nun endlich angehen und Lösungen finden.

Ist es nicht ein Frust für dich, dass du ausgerechnet jetzt vom National- in den Ständerat gewechselt bist, wo die «grünen Welle» in den Nationalrat geschwappt ist, der Ständerat aber sogar konservativer geworden scheint?

Im Gegenteil! Dort braucht es mich jetzt – wie andere erfahrene Umweltpolitikerinnen wie Adèle Thorens und Lisa Mazzone auch. Ich durfte 18 Jahre im Nationalrat mitarbeiten, nun möchte ich mich dort einsetzen, wo es mich braucht, wo ich mein breites Wissen und die Erfahrung einbringen kann, um Überzeugungsarbeit bei Politikerinnen und Politikern zu leisten. Für den Nationalrat mache ich mir keine Sorgen. Dort hat es nun 30 Grüne mit ausgezeichneten Voraussetzungen. Die Neuen sind politisch wie fachlich top. Sie sind so motiviert, dass man sie fast bremsen muss.

Ist bei dir nach fast zwei Jahrzehnten im Nationalrat nicht auch ein wenig Ernüchterung eingekehrt, was die Überzeugung angeht, Dinge verändern zu können?

Ganz und gar nicht. Der ganze Einsatz hat sich gelohnt. Mir sind Tränen gekommen an diesem Wahlsonntag am 20. Oktober, als ich am Abend endlich Zeit fand um zu realisieren, was für ein historischer Ruck durch die Schweiz gegangen ist. Es ist wunderschön, dass ich das erleben darf! Ich bin überzeugt, dass ich auch im Ständerat etwas bewegen kann. Klar werden wir viele Abstimmungen verlieren, aber das bin ich mich ja gewohnt (lacht). Das hält mich nicht ab. Im Gegenteil! Wer dran bleibt, gewinnt.

Wie nimmst Du die aktuelle Stimmung in der Bevölkerung wahr? Gibt es tatsächlich einen stärkeren Druck hinsichtlich einer umweltfreundlicheren Politik, auch auf bürgerliche Politikerinnen und Politiker?

Ja. 2011, nach Fukushima, hatten sich viele Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus der Mitte ein grünes Mäntelchen angezogen. Die Grünen konnten deshalb nur wenig von der Stimmung in der Bevölkerung profitieren. Das Wahlversprechen der Bürgerlichen wurde nicht eingelöst: Es dauerte bis 2017 bis die neue Energiestrategie stand. Das ist dieses Mal anders. Die Grünen konnten unsere Sitze im Nationalrat fast verdreifachen, auch die Grünliberalen konnten mit Umweltanliegen punkten. Ich denke, der Druck auf die Mitte-Parteien ist gross, dass sie ihre Wahlversprechen für griffigen Klima- und Umweltschutz dieses Mal einhalten müssen.

Es wurden auch deutlich mehr Junge gewählt. Was verändert dies?

Wenn es so viele Junge hat und fast die Hälfte Frauen sind, verändert das die Kultur im Bundeshaus komplett. Das merken Mann und Frau sofort, wenn sie hineinkommen. Die Atmosphäre ist offener und direkter. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Parlamentsdienste haben mir gesagt: Das ist das erste Mal, dass wir erleben, dass frisch gewählte Nationalräte uns fragen, wo was ist, ob sie dies oder jenes möglich ist. Früher wussten die Politiker – ich benütze bewusst die männliche Form – selber alles besser. Sie fühlten sich überlegen.

>Was machen die Jungen anders?

Sie kommunizieren offener untereinander, sie haben ein lockereres Hierarchie-Verständnis. Die Jungen haben sich vernetzt, es gibt eine parteiübergreifende Bundeshaus-WG und einen U-35-Club. Die gehen nicht nur zusammen in den Ausgang – das machen sie auch –, sondern tauschen sich zu Themen aus, welche die jungen Leute betreffen. So etwas hat es im Bundeshaus noch nie gegeben.

Und dies kommt ökologischen Anliegen zu Gute?

Ja, denn die Transformation in eine ökologische Zukunft ist auch eine zentrale kulturelle Frage: wie wir als Gesellschaft miteinander leben und umgehen und arbeiten, wie wir den Reichtum besser verteilen, was wir essen und wie wir es anbauen.

Was braucht es, dass dieses Jahr die erhofften Schritte in Richtung Transformation in eine nachhaltige Gesellschaft gemacht werden?

Entscheidend wird sein, dass die Bewegung in der Gesellschaft, auf der Strasse, weitergeht. Wir wissen eigentlich seit 40 Jahren, dass wir etwas unternehmen müssen. Doch trotz dem Aufstieg der Grünen zur breit verankerten nationalen Partei auch in den Kantonen ist in der Politik kaum etwas passiert. Die Kraft von der Strasse, aus der Gesellschaft heraus hat die letzten 30 Jahre gefehlt. Nun sind zwei starke Bewegungen wie die Klimajugend und der Frauenstreik zusammengekommen. Und nicht zu vergessen: diejenigen wie ich, die in den 1980er Jahren bereits für Umweltanliegen auf der Strasse wahren, schliessen sich ihnen an. Daher muss dieser Druck von unten weitergehen. Die bürgerlichen Politikerinnen und Politiker müssen wissen, dass ihnen auf die Finger geschaut wird.

Welche Rollen spielen dabei die beiden Pestizid-Initiativen?

Ich bin dezidiert der Meinung, es bräuchte einen indirekten Gegenvorschlag des Bundesrats. Und man sollte in der Agrarpolitik 22+ Pflöcke einschlagen und den bereits vorhandenen Nationalen Aktionsplan Pestizide verbindlich erklären. Es muss den Bürgerinnen und Bürgern aufgezeigt werden, dass es der Politik Ernst ist mit Handeln und zwar jetzt. Man muss sehen: Auch wenn eine der Initiativen angenommen wird, dauert es wertvolle Jahre bis zu einer Umsetzung und die Diskussion beginnt von vorne. Doch das Thema brennt: In der Bevölkerung, bei der Trinkwasserqualität und bei der Landwirtschaft, die Pestizide anwendet. Alle sind verunsichert und brauchen Klarheit.

Warum sind die Bäuerinnen und Bauern verunsichert?

Glyphosat und andere schädliche Pestizide sind seit 40 Jahren im Einsatz. Die Bäuerinnen und Bauern haben sie eingesetzt in der Meinung, dass sie unbedenklich sind. Sie waren ja von der Zulassungsbehörde bewilligt und überwacht. Unsere Bewilligungsbehörde hat hier total versagt. Die Bäuerinnen und Bauern brauchen nun Klarheit und alternative biologische Pflanzenschutzmittel. Auch hier hat die Agrarforschung total versagt. 70 Jahre hat man nun alles in die Erforschung neuer chemisch-synthetischer Produkte gesteckt, praktisch nichts in Alternativen. Hier braucht es dringend mehr Mittel für die Biolandbau-Forschung und für die Züchtung widerstandfähiger Kulturpflanzen. Ich habe deshalb nie verstanden, weshalb sich der Bauernverband nicht für einen indirekten Gegenvorschlag – kombiniert mit diesen zusätzlichen Forderungen zu den Initiativen –  eingesetzt hat.

Das «Chancenjahr 2020» – wie wird es ausgehen?

Die Ausgangslage ist sehr offen. Niemand kann heute sagen, wie sich die Dynamik entwickeln wird. In einer solchen Situation pflege ich zu sagen: Wir schaffen es. Wir werden sicher nicht ganz so weit kommen, wie ich mir das wünsche. In der Politik geschehen Paradigmenwechsel nicht in einem Jahr, es braucht Zeit und viel Arbeit. Aber ich würde sagen: Wenn von keiner Seite eine sture Ablehnung kommt, werden wir sicher gut unterwegs sein Ende Jahr.

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